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Religion kann zu Extremismus führen. [Lizenz: CC-BY-SA 4.0] [Quelle: Wikimedia Commons]
Warum wir glauben und warum ich glaube, dass wir es bleiben lassen sollten.

Ende letzten Jahres- einen Tag vor Heiligabend- bin ich aus der Kirche ausgetreten. Zuvor war ich für gut 30 Jahre Mitglied der evangelisch-lutherischen Glaubensgemeinschaft. Naja- zumindest auf dem Papier, meinen Draht zum Übernatürlichen im Allgemeinen und speziell organisierter Religion begann ich bereits vor etwa 17 Jahren zu verlieren. Dieser letzte Schritt des offiziellen Austritts war lediglich die durch Faulheit um Jahre verzögerte Konsequenz meiner Gedanken, Worte und Taten der letzten zwei Jahrzehnte. Der eigentliche Vorgang war übrigens angenehm unkompliziert: keine zehn Minuten beim Standesbeamten, einen Personalausweis und 25€ bar, mehr bedarf es nicht.

Der Staub der Jahrtausende

Seit knapp zwei Jahrtausenden befinden sich anfangs Europa und später durch Kolonialisierung und Missionierung weitere Kontinente und Völker im Klammergriff des Christentums. Mit etwa einem halben Jahrtausend Verzögerung begann der Islam mit ihm zu konkurrieren und das Judentum als ihre gemeinsame monotheistische Keimzelle existiert sogar bereits seit über 3000 Jahren.
Man fragst sich: warum?
Warum klammern sich die Menschen an das Übersinnliche? Warum ist ihnen das Irdische nicht genug? Warum hoffen so viele auf ein Leben nach dem Tod? Meiner Meinung nach lautet die Antwort auf diese Fragen: Angst. Das Leben ist im besten Falle schön und im schlimmsten Falle furchtbar. Aber ob es nun die katholische Hölle oder das islamistische Märtyrerparadies sind, eins haben sie gemeinsam:

Sie versprechen eine Existenz danach.

Kaum etwas dürfte für uns als denkende und fühlende Wesen schlimmer sein als der Gedanke, dass wir uns zwar während unseres Lebens unserer eigenen Existenz bewusst sein können, uns diese Gabe aber eines Tages genommen wird und wir nichts von unserem Sein und unserer Person hinterlassen können außer unseren Nachfahren, unseren Werken und den Konsequenzen unserer Taten. Und am allerschlimmsten daran ist: wir sind vollkommen machtlos, etwas dagegen zu unternehmen.

Jeder stirbt einmal. [Lizenz: Public domain] [Quelle: Wikimedia Commons]

Tod und Steuern

Benjamin Franklin sagte einmal: "Nichts in dieser Welt ist sicher, außer dem Tod und den Steuern." Und es ist wahr: wenn es zwei Dinge gibt, auf die man sich verlassen kann, dann sind es 1. dass es immer irgendjemanden geben wird, der Macht auf einen ausüben will und dass man 2. zwar irgendwann, dann aber mit aller Sicherheit den Löffel abgeben wird. Dieser Umstand wird zwar von den meisten als grundlegende Wahrheit anerkannt, jedoch im Alltag zumeist verdrängt. Und das wahrscheinlich auch aus gutem Grund: schließlich kann man sich gut vorstellen, dass eine tagtägliche Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit eine lähmende Wirkung haben kann (von dem Umstand einmal abgesehen, dass man damit wahrscheinlich der Hit auf jeder Party ist...).

Vielleicht sind wir Menschen entweder echte Kämpfernaturen oder doch halt einfach zu stur, um harte Fakten anzuerkennen. Jedenfalls scheint uns nichts ferner zu liegen, als uns mit dem Schicksal unserer eigenen Endlichkeit abzufinden. Was tun wir also? Wir konstruieren uns Hirngespinste: Fabelwesen, Mythen und schlussendlich... Götter und Religionen.

Ein Heide also

Ich möchte nicht falsch verstanden werden- ich bin mir des Nutzens von Religion, vor allem in der Vergangenheit, durchaus bewusst. Nur ist es meiner Meinung nach so, dass das Konzept von göttlicher Macht, einem Leben nach dem Tod und ganz besonders organisierter Religion mittlerweile dermaßen überholt ist, dass es künftigen Generationen nur noch im Weg stehen kann. Um es auf den Punkt zu bringen: Religion hatte ihren Platz in unserer Geschichte- mittlerweile hindert sie uns nur noch daran, in eine bessere Zukunft zu schreiten.

Diese Ansicht ist übrigens keine sonderlich neue: nach ersten erhaltenen Ansätzen in der Antike, spätestens jedoch seit die Menschen Philosophie und Wissenschaft in der Renaissance wieder im großen Maßstab für sich entdeckten, war die Saat für den globalen Atheismus gesät. Gerade innerhalb des letzten Jahrhunderts findet er in den Industriestaaten der Welt wachsenden Zuspruch. Und bisher sieht es nicht so aus, als würde diesem Trend mittelfristig etwas im Wege stehen. Jüngste Zahlen zu Kirchenaustritten in Deutschland zeigen eindeutig, in welche Richtung sich das Christentum in Deutschland bewegt. Und entgegen der klagenden Stimmen über den "Untergang des christlichen Abendlandes" muss das nichts Schlechtes sein. Es mag so manchen Fundichristen verwundern, aber es ist durchaus möglich als Heide "christliche" Werte zu vertreten, sofern sie sich mit dem gesunden Menschenverstand und einem humanistischen Weltbild decken. Hier muss kein Widerspruch bestehen. Ich muss nicht Teil keiner Religion oder Glaubensgemeinschaft angehören, um bspw. neutestamentarische Lehren als sinnvoll und vernünftig anerkennen zu können, wenn sie es denn sind.

Mir ist natürlich klar, dass meine Sichtweise nicht überall auf der Welt so problemlos möglich ist, wie sie es mir hier und jetzt ist. Vielerorts ist es auch heute problematisch oder gar gefährlich, nicht der lokal vorherrschenden Religion anzugehören. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass der Großteil der globalen Bevölkerung schließlich atheistisch sein wird. Ich möchte klarstellen: es handelt sich hierbei nicht um eine "Hoffnung, dass schlussendlich alles gut wird". Nein, ich bin der festen Überzeugung, dass die Menschen der Zukunft mehrheitlich und von sich aus der organisierten Religion den Rücken kehren werden. Die Wahrheiten, die wir mittlerweile in der Lage sind zu sehen, sind zu klar und die noch offenen Fragen zu verheißungsvoll, um sie als sakral unbeantwortbar abzustempeln. Wir werden diese Phase unserer Entwicklung als Spezies überkommen und wir werden auf sie zurückblicken, wie wir auf alles zurückblicken, was in unserer Geschichte liegt: mit einer Mischung aus Unverständnis und Überlegenheit.

Es wird Menschen geben, denen die Vorstellung der Notwendigkeit eines säkularen Staates merkwürdig erscheinen wird, weil Religionen wieder auf die Größe der Sekten zurück geschrumpft sind, aus denen sie einst entsprangen. Für diese Menschen wird der Zustand von Trennung zwischen Staat und Kirche eine offensichtliche Folge aus den bestehenden Gegebenheiten sein; jegliche Alternative erschiene ihnen vermutlich absurd.

Endlich frei. [Lizenz: CC BY 3.0] [Quelle: Wikimedia Commons]

Eine gottlose Welt

...mag sich nun mancher überzeugte Gläubige denken. Und das zurecht- diese Welt wird gottlos sein, doch das muss nicht bedeuten, dass sie deswegen eine schlechtere sein muss. Ich habe in meinem Leben bisher einmal den Petersdom in Rom besucht- eine Erfahrung, die ich übrigens jedem empfehlen kann; man muss kein Katholik sein, um sie genießen zu können. Ich habe wahrscheinlich noch niemals soviel Marmor, Gold und Handwerkskunst an einem Ort gesehen- es ist wirklich beeindruckend. Aber ein Gedanke schlich sich mir bei diesem Besuch unweigerlich in den Kopf:

Dieser Ort wurde für Gott gebaut. Doch so schön und beeindruckend er auch sein mag- geschaffen wurde er doch von Menschen.

Vielleicht ist dieser Gedanke ja auch schon anderen gekommen. Wäre ich Christ- der Besuch des Petersdoms hätte meinen Glauben sicherlich erschüttert.

Petersdom [Lizenz: CC BY-SA 3.0] [Quelle: Wikimedia Commons]

Seine Stimme

Aber was weiß ich schon- vielleicht bin ich einfach eines Seiner Schafe in der Nacht und fernab der Herde. Vielleicht wurde mir Sein wahrer Wille und Weg für mich noch nicht offenbart oder vielleicht bin ich auch schlichtweg spirituell behindert.

Denn es gibt sie ja: die wahren Gläubigen. Jene, die Seine Stimme vernommen haben. Auch wenn sie in den letzten Jahren und Jahrhunderten weniger geworden zu sein scheinen, so gibt es sie vereinzelt immer noch. Ich hatte sogar einmal die Gelegenheit mich mit einer Missionarin zu unterhalten, die sich von Seiner Stimme nach Südamerika gerufen fühlte, um Seelen für Seine Herde zu sammeln retten. Wir sind beide höflich geblieben aber wir machten uns auch nichts bezüglich unserer jeweiligen Überzeugungen vor. Sie glaubte an die Erbsünde, war gegen vorehelichen Geschlechtsverkehr und war sich sicher, dass wir alle nach dem Tod erst einmal im Fegefeuer landen. Ich sehe Neugeborene als unbeschriebene Blätter an, frei von jeglicher Schuld oder "Sünde", halte vorehelichen Geschlechtsverkehr für eine ziemlich gute Idee, um gesunde Beziehungen aufbauen zu können und bin überzeugt davon, dass es keinerlei Leben nach dem Tod gibt- erst recht keine katholische Folterkammer für jeden. Sie glaubte, dass die Erde nur einige tausend Jahre alt, Evolution ein Hirngespinst und jedes Lebewesen von Ihm geschaffen sei. Ich frage mich hingegen, wie man dermaßen die Augen vor der Welt verschließen kann.

Es war jedenfalls ein ganz interessantes Gespräch, wie man sich sicher vorstellen kann! In seinem Verlauf wurde mir allerdings ein Umstand immer klarer: auch wenn man über vernünftige und belegbare Argumente verfügt, gibt es Menschen, denen Fakten vollkommen egal sind. Mir ist es bisher noch nicht möglich gewesen, die geistige Akrobatik nachzuvollziehen, die notwendig sein muss, um auch nur einige ihrer Überzeugungen zu teilen. Es war jedoch offensichtlich: diese Person war tatsächlich überzeugt davon, dass Gott mit ihr gesprochen hatte und was konnten schon die Worte eines kläglichen, fehlgeleiteten Zweiflers wie mir dagegen ausrichten.

Seine Stimme. [Lizenz: Public Domain] [Quelle: Wikimedia Commons]

Auserwählt

Ich glaube weder, dass jene Missionarin ein schlechter Mensch ,noch dass sie gefährlich war. Zumindest soweit man so etwas anhand eines einfachen Gesprächs beurteilen kann. Jedoch gibt es sie da draußen: Menschen, die auf Grund ihres Glaubens und Weltbildes furchtbare Dinge tun. Ich denke, ich muss an dieser Stelle keine konkreten Beispiele vorbringen, da uns gerade die letzten zwei Jahrzehnte reichlich Fälle geliefert haben, die jedem vermutlich noch recht gut im Gedächtnis geblieben sind.

Nur soviel: Das muss aufhören.

Dieses stetige Leid ist weder notwendig, noch in irgendeiner Weise hilfreich. Immer wenn eine neue Schreckenstat begangen wurde, heißt es aus den jeweiligen Glaubensgemeinschaften: das waren Fundamentalisten- die breite Masse unserer Anhänger ist friedliebend, verurteilt diese Tat und bedauert, dass sie geschehen konnte. Und das ist ja auch nicht gelogen- ich bin mir sicher, dass das tatsächlich der Fall ist. Aber es lässt sich auch nicht leugnen, dass die jeweiligen Fundamentalisten eben gerade aus jenen Glaubensgemeinschaften hervorgegangen sind; dass sie wahrhaft gläubige und fehlgeleitete Menschen waren. Wenn die Religion das Opium des Volks ist, dann sind sie diejenigen, denen diese Droge nicht bekommen ist- jene, deren Sucht sie auf einen Pfad des Todes und der Zerstörung geführt hat, von dem es oftmals weder für sie selbst - noch für ihre Opfer - eine Rückkehr gibt.

Religion kann zu Extremismus führen. [Lizenz: CC-BY-SA 4.0] [Quellen: Wikimedia Commons [1] [2]]

Was tun?

Es gab in der Vergangenheit bereits Bestrebungen von staatlicher Seite aus Religion im Allgemeinen auszurotten. Beispiele hierfür finden sich unter den national-/sozialistischen Staaten des 20. Jahrhunderts. Diese Versuche waren mit noch mehr Leid und Tod erkauft und ihr Effekt war schließlich entweder zu vernachlässigen oder gar kontraproduktiv. Diese Art von Vorgehen gegen Religion ist falsch und verbrecherisch. Niemand sollte dafür verfolgt werden, einen bestimmten Glauben zu haben oder einer bestimmten Religion anzugehören. Nein, wenn man das Problem Religion wirksam angehen will, so kann es nur zwei Waffen geben: Aufklärung und Bildung. Man kann Menschen nicht dazu zwingen, eine innere Überzeugung - einen Glauben - aufzugeben oder gar nicht erst anzunehmen. Dies kann nur aus ihnen selbst heraus geschehen, indem sie mehr über die Welt um sich erfahren. Der Zugang zu verifizierbaren Wissensquellen muss gewährleistet und öffentliche, freie Diskussion von Glaubensfragen und Philosophie muss gefahrlos möglich sein. Ich vertrete die Überzeugung, dass der Mensch nicht das willenlose Herdentier ist, zu dem man ihn erziehen kann. Wir alle beginnen unseren Weg als Kinder- und wenn Kinder über zwei Dinge im Überfluss verfügen, so sind es sicherlich Bewegungsdrang und Neugier. Diese Neugier muss gestillt und nicht erstickt werden. Religionen versprechen einfache Antworten auf unsere schwierigsten Fragen. Die stumpfe Akzeptanz dieser Antworten kann uns nur blind und taub für jene Wahrheiten machen, deren Erkenntnis Arbeit und Mühe erfordern.

Verena schrieb am 2021-01-03 um 00:26:42: 7

Spirituell behindert 🤣 köstlich 🤣🤣🤣


Ich bin selbst, wenn ich mich recht entsinne, 2014 aus der Kirche ausgetreten und habe mich sehr über einige negative Kommentare, selbst aus der eigenen Familie, gewundert.


Das ich meinen Sohn nicht taufen lassen möchte hat dem ganzen noch sie Krone aufgesetzt 😅


Dabei ist meine Familie nicht besonders dafür bekannt sehr gläubig zu sein .


Für viele gehört die Zugehörigkeit zu einer Religion einfach dazu.


Für mich völlig unverständlich.

redneptun schrieb am 2021-01-04 um 07:01:00: 9

Ich vermute, viele sind sich nicht bewusst, wie sehr sie eigentlich noch in dieses System einer "Standardreligionszugehörigkeit" eingebunden sind.

Eine plötzliche Konfrontation mit der Realität, in der dieser Umstand für jüngere Leute (wie in deinem Beispiel Kinder und Enkel) einfach nicht mehr gilt, kann teilweise zu drastischen Reaktionen führen, die man gar nicht vermutet hätte.

Ich vermute, dass das daran liegen könnte, dass Leute mit zunehmendem Alter immer konservativer werden. Ich merke das ja sogar schon in Anfängen bei mir selbst in meinen 30ern. Wenn man nochmal 20-30 Jahre drauf rechnet, dann verwundert es mich nicht, dass manche Leute so schockiert darauf reagieren, wenn die "Werte", die ihnen bereits selbst als Kindern vermittelt wurden und gegen die sie selbst als Jugendliche oder Erwachsene nie rebelliert haben, plötzlich in Frage gestellt werden.

Dieser gefühlte "Verlust" einer altbekannten Stütze ihres Weltbildes kann Menschen ziemlich in die Defensive drängen...


Eine Anekdote, die vielleicht vergleichbar wäre, ist beispielsweise die Reaktion meiner Großmutter auf das Tattoo meiner Schwester. Anfangs ist sie komplett frei gedreht, weil sich so etwas "EINFACH NICHT GEHÖRE". Ich habe diese Aufregung nicht verstanden, da mein Verständnis von körperlicher Selbstbestimmung das Stechen von Tätowierungen bei Erwachsenen einfach schon immer eingeschlossen hat.

Ich glaube, das Problem war einfach, dass die Meinung meiner Großmutter von Tätowierungen zu einer Zeit geformt wurde, in der nur Seemänner, Verbrecher und Prostituierte tätowiert waren. Die plötzliche Konfrontation damit, meine Schwester in eine dieser Schubladen im Kopf stecken zu müssen, hat halt einen Schalter umgelegt, der nicht umgelegt werden wollte.

Aber: nach einer Weile hat es sie einfach nicht mehr aufgeregt. Es hat wohl einfach etwas gedauert, bis sie sich an den Gedanken gewöhnt hatte (und ein wenig Überzeugungsarbeit meinerseits, dass Tätowierungen mittlerweile etwas ziemlich gewöhnliches sind und bei allen Geschlechtern, Schichten und Berufen gestochen werden ;-D ).


Moral: es gibt also Hoffnung, solange einem die Leute noch zuhören, schätze ich.

Tom schrieb am 2021-01-07 um 20:18:58: 12

Finde den Text sehr gelungen und kann das nachempfinden!

redneptun schrieb am 2021-01-08 um 07:00:04: 13

Dankesehr!

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